Die Zukunft der Bahninfrastruktur international gestalten – doch wie?

Harmonisierte Standards schaffen, die Pünktlichkeit verbessern und die Kommunikation vereinfachen: So lautet das Rezept, welches die europäischen Bahninfrastrukturbetreiber zusammengestellt haben. Diese haben kürzlich ihr jährliches Treffen in Bern abgehalten. Ein Überblick.

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Inhaltsverzeichnis

Mit harmonisierten rechtlichen Vorgaben einfacher und besser werden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Treffens waren sich in einem zentralen Punkt einig: Es ist wichtig, rechtliche Vorgaben in Europa über die Grenzen hinaus zu harmonisieren. Dies, um auch den internationalen Schienenverkehr zu fördern und für den Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern wie Lastwagen oder Fernbusse fit zu bleiben.

Ein Beispiel ist die internationale Koordination, von der vor allem der Schienengüterverkehr profitiert; er ist nämlich in Europa zu rund 50 % grenzüberschreitend unterwegs. Im Falle einer Störung oder Baustellen auf den wichtigsten europäischen Verkehrsachsen, den Korridoren, fehlen abgestimmte, betriebliche Prozesse. Die Güterzüge verlieren bei Umleitungen deshalb noch zu viel Zeit. Von abgestimmten Regelungen profitieren auch die Kunden des Güterverkehrs durch eine pünktliche Lieferung.

Auch die weitere Digitalisierung der Bahnproduktion kann die SBB Infrastruktur nicht im Alleingang lösen. Das Thema ist eine Chance, neue Technologien in den Eisenbahnsektor zu integrieren, Prozesse zu verbessern und damit die internationale Zusammenarbeit zu verbessern. Der intensive Austausch unter den Bahninfrastruktur Managern zu smartrail 4.0 und Smart ERTMS hat massgeblich zum Verständnis beigetragen, dass nur ein abgestimmtes Vorgehen die Interoperabilität und die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs langfristig sichern kann. Dafür sollen Innovationen gebündelt, koordiniert und schrittweise eingesetzt werden.

In diesem Rahmen wurde von drei der Partner der internationalen Arbeitsgruppe RCA (Reference CCS Architecture), der DB Netz AG, Network Rail (Grossbritannien und Nordirland) und SBB Infrastruktur, eine Erklärung zur weiteren gemeinsamen Zusammenarbeit unterzeichnet.

«Der Einsatz der Arbeitsgruppe ist ein Zukunft bestimmendes Vorhaben»
Jaques Boschung, Leiter SBB Infrastruktur

Internationale Arbeitsgruppe nimmt Pünktlichkeit in den Fokus

Die internationale Pünktlichkeit einheitlich messen und verbessern: Am Treffen lancierte die SBB hierfür in enger Zusammenarbeit mit dem Korridor Rhein-Alpen eine internationale Arbeitsgruppe. Die Bahnen wollen mit geeinter Kraft die Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahn stärken. Einen wichtigen Part übernimmt dabei die SBB. Stephan Schenk, Gesamtverantwortlicher der «Chance Ceneri 2020» bei der SBB Infrastruktur, wird in enger Zusammenarbeit mit dem Korridor Rhein Alpen und unter Einbezug der Schienengüterverkehrsunternehmen, der Terminalbetreiber und der Operateure eine internationale Arbeitsgruppe lancieren, die zum Ziel hat, die Pünktlichkeit auf dem Güterverkehrskorridor Rotterdam–Genua einheitlich zu messen – und zu verbessern. Gleichzeitig soll die Kapazität im Schienengüterverkehr «massiv erhöht» werden, wie Jacques Boschung, Leiter Infrastruktur, sagte. Den Einsatz der Arbeitsgruppe bezeichnet er als «Zukunft bestimmendes Vorhaben».

Besser verständigen mit neuer Technologie

Die Kommunikation der Triebfahrzeugführenden mit der Betriebsleitzentrale ist im grenzüberschreitenden Verkehr und in mehrsprachigen Ländern oft eine Herausforderung. Die rechtlichen Vorgaben für die Sprachkenntnisse sind zwar harmonisiert, haben sich aber in den EU-Mitgliedstaaten als wenig praxistauglich herausgestellt. Gesucht werden deshalb einfachere Lösungen bei gleichzeitigem Erhalt des Sicherheitsniveaus. IT-Spezialisten der SBB, DB und ÖBB haben nun einen Prototypen einer Sprach-App entwickelt, die so funktioniert: Jeder spricht in seiner Sprache, und die App übersetzt das Gesagte in die vom Empfänger gewählte Sprache. Das Produkt steckt noch in den Kinderschuhen. Das weitere Vorgehen wird nun in Zusammenarbeit mit der bereits bestehenden konzernweiten Gruppe innerhalb der SBB sowie mit den relevanten internationalen Initiativen abgestimmt.

Die SBB im internationalen Umfeld

Als Mitglied der CER und PRIME hat die SBB die Möglichkeit, an der Weiterentwicklung des EU-Rechtsrahmens, der teilweise auch in der Schweiz gilt, mitzuwirken – und zwar unabhängig von einer EU-Mitgliedschaft. SBB-FachexpertInnen bringen sich beispielsweise in CER-Arbeitsgruppen ein und tragen so zur Positionierung des grössten europäischen Eisenbahnverbandes bei. Bei ausgewählten Themen vertreten SBB-Mitarbeitende die CER-Positionen sogar gegenüber der Eisenbahnagentur der Europäischen Union (ERA) sowie der EU Kommission. Unsere Erfahrungen werden ausserhalb der Schweiz sehr geschätzt und tragen dazu bei, dass wir mit vielen unserer Anliegen auf EU-Ebene Gehör finden. Die Einladung, Gremiensitzungen wie das HLIM und das PRIME Plenary in der Schweiz abzuhalten, helfen der SBB Infrastruktur, unsere Themen auf die Agenda zu bringen und die EU-Rechtsetzung sowie deren Anwendung in unserem Sinne aktiv mitgestalten zu können.

Glossar

Internationaler Gremiendschungel

Die EU-Rechtsetzung sowie die unterschiedliche Ausrichtung der nationalen Infrastrukturbetreiber hat zur Folge, dass es kein gemeinsames Gremium gibt, in dem die politischen Interessen gebündelt werden. Eine Auswahl wichtiger Gremien für Infrastrukturbetreiber:

CER: The Voice of European Railway

Die CER ist ein Lobbyingverband und vertritt die Interessen ihrer Mitglieder in der EU-Politik, um ein verbessertes Geschäfts- und Regulierungsumfeld für europäische Eisenbahnbetreiber und Eisenbahninfrastrukturunternehmen zu unterstützen. Die CER vereint integrierte Bahnunternehmen, reine Infrastrukturbetreiber, Güter- und Personenverkehrsunternehmen sowie nationale Verbände Europas und weiterer Länder. Die SBB ist als integrierte Bahn CER-Mitglied; die SBB Infrastruktur bringt sich bei politischen Themen u. a. in der CER Infrastructure Interest Group ein.

EIM: European Rail Infrastructure Managers

Ein Lobbyingverband, der die Interessen von gut einem Dutzend Infrastrukturbetreibern vertritt, die mehrheitlich nicht Teil integrierter Bahnen sind. SBB Infrastruktur ist nicht EIM-Mitglied.

HLIM-Meeting: High-Level Infrastructure Meeting

Jährlich stattfindender gemeinsamer Grossanlass von EIM und CER, um die grossen Infrastrukturbetreiber Europas zusammenzuführen. Er wird abwechselnd von einem CER- bzw. einem EIM-Mitglied ausgerichtet. 2018 fand das HLIM auf Einladung von ProRail in Amersfoort (Niederlande) statt. 2019 lud die SBB Infrastruktur nach Bern. 2020 findet das HLIM auf Einladung von Infrabel in Brüssel statt.

PRIME: Platform of Rail Infrastructure Managers in Europe

Die Teilnahme an diesem Netzwerk ist für alle grossen Infrastrukturbetreiber und Trasssenvergabestellen aus den EU-Mitgliedstaaten rechtlich verpflichtend. Infrastrukturbetreiber aus EFTA-Staaten können – wie SBB Infrastruktur, BLS Infrastruktur und Trasse Schweiz – PRIME-Mitglied sein. Die EU Kommission ist – anders als bei CER und EIM – Mitglied und unterstützt die Tätigkeit des Netzwerks. Sie hat damit ein Gremium etabliert, in dem – an den EU-Mitgliedstaaten vorbei – der direkte Austausch mit den Infrastrukturbetreibern gepflegt werden kann.. Themen von PRIME sind u. a. der Austausch zur Anwendung der EU-Rechtsetzung, der Vergleich der Leistungen (Benchmarking) und die Befassung mit grenzüberschreitenden Engpässen.

Fachbegriffe

Smart ERTMS

ERTMS (European Rail Traffic Management System) ist das zurzeit in der Einführung befindliche System für Management und Steuerung des Eisenbahnverkehrs in Europa. Es definiert die Ansprüche an das Zugleitsystem. Dieses besteht aus den Komponenten Zugbeeinflussungssystem ETCS, dem als Kommunikationssystem für Sprache und Daten genutzten Mobilfunksystem GSM-R sowie den verbindlichen betrieblichen Regelwerken des Teilsystems «Verkehrsbetrieb und Verkehrssteuerung» der Spezifikationen für die Interoperabilität.

smartrail 4.0

SBB, BLS, die Schweizerische Südostbahn AG (SOB), die Rhätische Bahn (RhB), Transport publics fribourgeois (tpf) und der Verband öffentlicher Verkehr (VöV) arbeiten gemeinsam im Branchenprogramm smartrail 4.0, um die Bahn fit für die digitale Zukunft zu machen. Das Programm befasst sich mit der technologischen Entwicklung in den nächsten 20 Jahren und verfolgt damit die Modernisierung im Kern der Bahnproduktion. Es entwickelt neue Systeme für die Bahnbranche mit dem Ziel, die Kapazität, Verfügbarkeit und Sicherheit zu erhöhen sowie die Kosten zu senken. Das Branchenprogramm ist dabei stark abgestimmt und unterstützt die RCA Initiative.

RCA

Innerhalb der EUG (ERTMS Users Group) und EULYNX (Europäische Initiative der Infrastruktur Manager) wurde im August 2018 eine internationale Initiative gestartet: die Mitglieder dieser zwei Organisationen (adif, Banedanmark, Bane NOR, CFL, DB, Infrabel, ProRail, SNCF, Slovenske zeleznice, RFI, SBB, Trafikverket, Väylä) haben ihre Kräfte gebündelt, um unter der RCA (reference CCS architecture) Initiative eine harmonisierte Architektur der künftigen CCS im Eisenbahnbereich anzugehen. Im Februar 2019 wurde das RCA white Paper publiziert zur künftigen Entwicklung der CCS und dem Bedarf, die Anforderungen an dessen Architektur harmonisiert voranzutreiben.

(CCS = Control-command and signalling --> Technische Spezifikation für die Interoperabilität der Teilsysteme „Zugsteuerung, Zugsicherung und Signalgebung“.)

Interoperabilität

Die Harmonisierung der technischen und betrieblichen Vorgaben für den Schienenverkehr ist eine Initiative der EU-Institutionen, der sich die Schweiz mit der Annahme des Landverkehrsabkommens angeschlossen hat. Ziel ist die Schaffung eines integrierten europäischen Eisenbahnraums. Erforderlich dafür ist eine verbesserte "Interoperabilität" - oder technische Kompatibilität - der Infrastruktur, des Rollmaterials, der Signaltechnik und anderer Teilsysteme des Eisenbahnsystems sowie weniger komplexe Verfahren für die Genehmigung von Rollmaterial.