Ein Blick ins Jahr 2040

Fahren wir in Zukunft noch Zug, Auto, Velo? Wie oft? Zu welchem Zweck? Für die SBB schaut Christoph Gerber, Projektleiter bei LIMA (Langfristige integrierte Mobilitäts- und Arealentwicklung) in die Glaskugel. Was er darin sieht und was das für die SBB bedeutet, erklärt er im Interview.

Lesedauer: 7 Minuten

Christoph Gerber ist der Zeit voraus – zumindest bei der Arbeit. Werden die Menschen im Jahr 2040 in der Schweiz mehrheitlich in der Stadt oder auf dem Land leben? Mit welchen Verkehrsmitteln werden sie ihren Arbeitsweg zurücklegen und sich in der Freizeit fortbewegen? Mit diesen Fragen setzt sich Christoph Gerber und das Team von LIMA, was für «Langfristige integrierte Mobilitäts- und Arealentwicklung» steht, zusammen mit externen Experten auseinander. Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine einfache Antwort gibt es nicht. Aber auf der Basis von Statistiken und Prognosen sowie Entwicklungen, die sich abzeichnen, sind vier denkbare Zukunftsvisionen zur Schweiz von 2040 entstanden.

Quelle: SBB CFF FFS

Eine Beschreibung der Zukunftsszenarien ist am Schluss des Textes zu finden.

Christoph Gerber, wie bist du heute zur Arbeit gekommen?

Ich wohne in der Stadt Bern und habe seit Kurzem das Privileg, je nach Wetter und Lust mit dem Velo, mit dem Tram oder mit dem Bus ins Büro im Wankdorf zu fahren.

Und wie bewältigst du den Arbeitsweg im Jahr 2040?

Dann werde ich pensioniert sein, in einer mittelgrossen Stadt wohnen und meine Mobilität über eine einfach zugängliche Plattform organisieren, die verschiedene Anbieter vernetzt. Je nach Zeit und Budget lasse ich mich von hoch automatisierten und kollektiv genutzten Fahrzeugen von zu Hause abholen. Diese bringen mich entweder direkt ans Ziel oder zum nächsten Bahnhof. Wobei der Ausdruck Bahnhof nicht mehr stimmt: Es wird ein Hub sein, also eine Drehscheibe von unterschiedlichen Mobilitätsanbietern.

Du hast eine klare Vorstellung von der Zukunft. Warum aber erachtet es die SBB als nötig, verschiedene Zukunftsszenarien auszuarbeiten?

Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) prognostiziert aufgrund der wachsenden Bevölkerung und wirtschaftlichen Entwicklung massiv höhere Verkehrsleistungen: plus 25 Prozent beim Personenverkehr und plus 37 Prozent beim Güterverkehr. Die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen bis 2040 sind aber noch mit vielen Unsicherheiten behaftet. Die Verteilung auf die einzelnen Verkehrsmittel ist daher schwer vorhersehbar. Die Konzernleitung hat darum im vergangenen Jahr entschieden, Szenarien zu erarbeiten. Die Szenarien unterscheiden sich insbesondere im Grad der Automatisierung. Auch sind die individuelle und kollektive Mobilität unterschiedlich ausgeprägt.

Welche Risiken geht die SBB ein, wenn sie zu wenig gut vorbereitet in die Zukunft fährt?

Zum einen besteht das Risiko, dass Fehlinvestitionen getätigt werden. Zum anderen kann sich die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn verringern, wenn wir unsere Stärken nicht nutzen und uns je nach Szenario nicht rechtzeitig mit anderen Mobilitätsdienstleistungen vernetzen.

Werden auch neue Anbieter auf den Markt drängen?

Es könnte sogar eine zusätzliche Mobilitätskategorie entstehen: der individuelle öffentliche Verkehr. Bereits jetzt bietet ja beispielsweise die Plattform Sharoo Privatpersonen die Möglichkeit, ihre Fahrzeuge anderen Personen zur Nutzung zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise werden Privatpersonen öV-Anbieter.

Was kann die SBB tun, um ihre Stellung auf dem Markt zu festigen?

Vorausdenken, mitreden und zusammen mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Entwicklung aktiv mitgestalten. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Mobilität, sondern auch mit ihrer Wirkung auf die Raumentwicklung – und umgekehrt: Wo wird künftig Wohnraum geschaffen, wo und wie gearbeitet und wo die Freizeit verbracht? Als eine der grössten Immobilienfirmen der Schweiz kann die SBB die Entwicklung und Verdichtung insbesondere um Bahnhöfe mitgestalten.

Wie genau hängen die Entwicklung des Raums und die der Mobilität zusammen?

Die Wechselwirkung zwischen Raum- und Mobilitätsentwicklung ist bekannterweise sehr stark. Wenn sich die Menschen künftig eher in wenig erschlossenen, ländlichen Gebieten niederlassen, stärkt das den Individualverkehr. Verdichtete Zentren hingegen fördern die kollektive Mobilität und den Langsamverkehr. Es ist wichtig, dass sich die SBB sowohl mit der Entwicklung der Mobilität auseinandersetzt als auch mit der Wirkung von Verdichtung auf das Verkehrsverhalten. Und das macht sie ja beispielsweise schon mit den elf regionalen Gesamtperspektiven.

Die Zukunftsszenarien befassen sich mit dem Jahr 2040. Inwiefern sind sie jetzt schon relevant?

Das Bundesparlament hat am 21. Juni beschlossen, die Schweizer Bahninfrastruktur bis 2035 mit knapp 13 Milliarden Franken auszubauen. Damit werden bereits viele Infrastrukturprojekte definiert, die 2040 in Betrieb sein werden. Für die SBB mit derart langen Investitionszyklen bei der Infrastruktur und beim Rollmaterial ist es notwendig, in Zeithorizonten von 20 Jahren und mehr zu denken.

Welche Wirkung entfalten die Szenarien bei dieser Langfristplanung?

Um zu prüfen, ob Vorhaben in den verschiedenen Szenarien «robust» sind, haben wir eine Methode entwickelt, die sich Windtunneling nennt. Wie in einem Windkanal wird die «Flugtüchtigkeit» der Vorhaben geprüft. Damit identifizieren wir zusammen mit dem Projektteam konkrete Chancen und Risiken, leiten allfällige Massnahmen ab und fördern das Szenariendenken in der SBB. Dies hilft, sich vorausschauend auf mögliche Veränderungen des Umfelds vorzubereiten.

Zum Beispiel?

Mit den Verantwortlichen von P+Rail von SBB Immobilien und dem Bereich Neue Mobilitätsdienstleistungen (NMD) gingen wir der Frage nach, ob sich die heutige Nachfrage nach Parkplätzen an den Bahnhöfen künftig verändern wird. Auch prüften wir, ob und an welchen Standorttypen beispielsweise Investitionen in Parkhäuser mit einer Lebensdauer von 60 bis 80 Jahren wirtschaftlich nachhaltig sind. Mit dem Windtunneling konnten wir aufzeigen, dass sich Nachfrage und Kundenwünsche je nach Szenario und Ortstyp unterschiedlich ausprägen werden. Auf dieser Basis konnten Empfehlungen für strategische Entscheidungen abgeleitet werden.

Warum sollten Mitarbeitende die Zukunftsszenarien kennen?

Solche Szenarien sind sicher nicht Pflichtstoff für alle. Aber wer interessiert ist, sieht, wie sich die SBB mit den Chancen und Risiken der Zukunft auseinandersetzt und sich aktiv auf künftige Entwicklungen vorbereitet. Wichtig finde ich unsere Szenarien für die Verantwortlichen von strategischen Projekten, die sich Gedanken machen über die Unsicherheiten der Zukunft und deren Auswirkungen auf ihr Vorhaben. Sie sollten Kenntnis davon haben, dass die SBB vier Zukunftsszenarien entwickelt hat und dass sie sich auf die zugrunde liegenden Annahmen beziehen können. Mit dem Windtunneling steht ihnen eine Methode zur Verfügung, mit der ein Projekt, allenfalls regelmässig, auf seine Robustheit geprüft werden kann.

Wie lange haben die aktuellen Szenarien Bestand? Werden sie sich verändern?

Die Szenarien werden jährlich aufgrund aktueller Entwicklungen geprüft und, sofern notwendig, aktualisiert. Dieser Prozess wurde aktuell das erste Mal abgeschlossen. Mit internen und externen Experten haben wir relevante Themen wie etwa das Arbeits- und Freizeitverhalten vertieft analysiert und anhand der Erkenntnisse die Szenarien präzisiert. Grundsätzlich wurden die bisherigen Szenarien und deren Annahmen bestätigt.

Die vier Zukunftszenarien in Kürze

Szenario 1: Automatisierter Individualverkehr

Hier wird Individualität gross geschrieben. Vieles ist automatisiert und neue Fahrzeugtechnologien setzen sich durch. Die Bevölkerung ist weitgehend individuell auf den Strassen unterwegs und Bahn, Bus und Tram rücken in den Hintergrund.

Szenario 2: Neue vernetzte Mobilität

In diesem Szenario sind Raum und Mobilität intelligent vernetzt. Smartshuttles, automatisierte S-Bahn und massgeschneiderte Angebote sorgen dafür, dass die Menschen weniger Autos besitzen. Es gibt ein effizientes und umweltfreundliches Gesamtsystem, das aufeinander abgestimmt ist.

Szenario 3: Getrennte Verkehrssysteme

Dieses Szenario ist unserer heutigen Welt sehr ähnlich. Neue Technologien werden nur vereinzelt wirksam. Der Strassen- und der Schienenverkehr laufen eher isoliert nebeneinander ab und das eigene, nicht autonome Auto bleibt das zentrale Verkehrsmittel.

Szenario 4: Integrierter ÖV

Hier steht das Vernetzen und Sharing von schon heute bekannten Verkehrsmitteln im Mittelpunkt. Das ist nachhaltig und schont die Ressourcen.

Mehr Zukunftsmusik

Mit der Zukunft der Mobilität befasst sich nicht nur LIMA bei der Unternehmensentwicklung. Bei Personenverkehr hat die Angebotsplanung mit „SIMBA MOBi“ ein Verkehrsmodell entwickelt, welches alle Verkehrsmittel berücksichtigt. Damit können Mobilitätskonzepte simuliert werden. Die Simulationen unterstützen nicht nur die Gestaltung bahnspezifischer Angebote, sondern auch neuer Mobilitätsdienstleistungen sowie die Analyse der Auswirkungen auf SBB-Immobilien.

Bei Infrastruktur spielt die Zukunftsmusik beim Inkubator. In diesem „Brutkasten“ werden neue Ansätze und Ideen rund um die Verkehrs- und Infrastrukturplanung untersucht und alternative Konzepte für alle drei Netze (Bahn, Telecom und Energie) entwickelt.

Speziell die Entwicklung der Bahnhöfe zu Mobilitätshubs nimmt wiederum ein anderes Team in den Fokus.