Der Albtraum der Pendler und Bähnlerinnen beginnt am Dienstag, 9. November gegen 17 Uhr. Der Sicherheitschef einer Baustelle meldet eine Auffälligkeit an der Fahrbahn in Tolochenaz (VD). Eine halbe Stunde später sperren Sicherheitsfachleute die Strecke: Totalunterbruch auf der Hauptachse Lausanne–Genf, einem alternativlosen Engpass. Schuld daran ist ein Loch zwischen den beiden Gleisen. Nichts geht mehr.
Hinter den Kulissen beginnt das Rennen. Es gilt, viele Dinge zu organisieren. Ein paar Beispiele:
- Züge rund um die Schadenstelle anhalten
- Ersatzbusse finden, um die Reisenden an ihr Ziel zu bringen
- zusätzliche SBB Mitarbeitende (re)aktivieren
- den Notfallstab alarmieren
- Kunden über alle Kanäle informieren: in den Zügen, auf den Perrons, via die App und viele weitere
- Kunden im Güterverkehr informieren
- übrige Zugfahrten anpassen
- Touren von Zügen und dem entsprechenden Personal neu planen
- …
«Ich kann mich nicht erinnern, in meinen 46 Jahren bei der SBB jemals einen solchen mehrtägigen Unterbruch auf der Linie Lausanne–Genf erlebt zu haben.»Blaise Perret, Leiter Operation in der Betriebszentrale Lausanne
So wie das Gehirn den Körper steuert, steuern die Betriebszentralen und die Traffic Control Center den Bahnverkehr. Sobald eine Strecke gesperrt ist, läuft das «Bahngehirn» auf Hochtouren. Notfallsitzungen sowie die Ausarbeitung und Umsetzung von Konzepten folgen dicht hintereinander. Die Personenzüge rund um Tolochenaz (VD) halten im nächstgelegenen Bahnhof. Immerhin braucht es keinen Lösch- und Rettungszug, um die Reisenden auf freier Strecke zu evakuieren. Aber auch wenn sie in einem Bahnhof aussteigen können, wissen sie noch nicht, wie sie ihre Reise fortsetzen können. Die Bahnhöfe füllen sich. Rund 15 000 Personen sitzen fest. «Zur Hauptverkehrszeit Ersatzbusse zu finden und schnell zu den betroffenen Bahnhöfen zu bringen, das dauert», sagt Patrick Michaud, Leiter der Betriebszentrale in Lausanne. Aufgeben ist jedoch keine Option. Gegen 19.30 Uhr stehen immerhin 35 Busse zur Verfügung. Besser als gar nichts, aber: «Um 12 000 Personen zu befördern, wären 60 nötig gewesen.» Patrick lobt die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Verkehrsunternehmen der Region, aber auch von weiter her: Einige Busse kamen aus Yverdon und sogar Freiburg.
Solidarität und Service public
Die SBB meistert die Herausforderung nicht im Alleingang. Im Fall von Tolochenaz wird der Stab der SBB durch den kantonalen Führungsstab (KFS) und die Kantonspolizei verstärkt. «Wir haben am selben Strang gezogen. Die Gemeindepolizei von Morges hat zum Beispiel geholfen, die Kundschaft zu informieren. Diese Solidarität, das ist Service public», sagt Patrick. Die Solidarität spürt man auch unter den SBB Mitarbeitenden. Bei einem solchen Ereignis braucht es zusätzliches und vor allem flexibles Personal, das zu aussergewöhnlichen Arbeitszeiten bereit ist. «Wieder einmal konnte ich nur staunen über das ‹Feu Sacré› und den Einsatz der Mitarbeitenden», freut sich Patrick.
Ein Loch kommt selten allein
Ein erstes Aufatmen gegen 21.30 Uhr: Die Kantonspolizei meldet, dass sich die Lage in den Bahnhöfen beruhigt hat. «Natürlich sind viele Kundinnen und Kunden nur mit Mühe und sehr spät nach Hause gekommen, andere haben im Hotel übernachtet. Aber immerhin konnte das Schlimmste vermieden werden: ihre Unterbringung in den Zivilschutzanlagen», bemerkt Patrick. Während der Nacht schreiten die Arbeiten am Schadenplatz voran: das Loch wird gestopft und das Gelände stabilisiert. Der Plan für den nächsten Morgen: Die Strecke soll eingleisig befahren werden. Die ersten Züge fahren ab 4 Uhr, das Team in der Betriebszentrale verfolgt sie auf den Bildschirmen. Doch die Freude ist von kurzer Dauer, die kalte Dusche kommt gegen 5 Uhr. Nach elf Zügen wird die Strecke abermals gesperrt. Es hat sich ein weiteres Loch gebildet. Schnell ist klar, dass dieser Unterbruch lange dauern wird. So etwas hat man noch nicht erlebt – auch nicht die abgehärtesten Bähnler mit jahrzehntelanger Erfahrung. Kleiner Trost: Das Team hat die Busreservierung für den Mittwochmorgen nicht storniert und ist darauf vorbereitet, einen zweiten Tag ohne Züge zu meistern.
Zwei Lastwagen ersetzen einen Güterwagen
Ersatzbusse für 15 000 Personen zu finden ist eine Sache, aber wie sollen mehr als 2000 Tonnen Waren transportiert werden? «Auf diesem Streckenabschnitt gibt es keinen Alternative für den Gütertransport. Unsere Kunden mussten ihre Transporte auf die Strasse verlegen», erklärt Olivier Pantet, Leiter Region West/Tessin bei SBB Cargo. Auch bei SBB Cargo laufen die Telefonleitungen heiss. Der kleine Vorteil gegenüber dem Personenverkehr: «Wir kennen die Kunden. Wir wissen, wer welchen Wagen nutzt. So können wir sie direkt und gezielt informieren.» Aber damit wird das Problem nicht kleiner, vor allem für jene Kunden, deren Waren pünktlich ankommen müssen, wie zum Beispiel Lebensmittel oder Postsendungen. Eine Cargo-Wagenladung entspricht in etwa zwei Lastwagenladungen. «Einer unserer Kunden musste Ersatz für 30 Güterwagen finden. Von einer Stunde auf die andere 60 Lastwagen aufzutreiben ist nicht so einfach», erklärt Olivier.
1 Änderung, x Folgen
Ein Unterbruch erfordert auch eine Fahrplananpassung – für alle. Oder anders gesagt: Es müssen nicht nur alternative Lösungen für die Kundinnen und Kunden gefunden werden, es geht auch darum, die Bahnleistungen neu zu planen. Das heisst dafür zu sorgen, dass der richtige Zug mit der richtigen Lokführerin und dem richtigen Kundenbegleiter im richtigen Moment am richtigen Ort ist. Es greift der Dominoeffekt, jede Verkehrsänderung hat Konsequenzen. Die Fachleute im Traffic Control Center mussten zahlreiche Änderungen an der Personal- und Zugdisposition vornehmen, und zwar zusätzlich zum normalen Tagesgeschäft. Diese Änderungen betreffen nicht zuletzt die Kundenbegleitenden. Statt in den ausfallenden Zügen sind sie ab Mittwochmorgen, 10. November in den Bahnhöfen im Einsatz. Um welchen Informationskanal es sich auch handelt: Die Kundschaft gut zu informieren, ist eine Herausforderung. «Es gilt Schnelligkeit und Zuverlässigkeit zu vereinbaren», erklärt Jhonny Domingues, Leiter Region a.i. Kundenbegleitung und Cleaning Region West. Die Quadratur des Kreises. «Solange noch nicht alle Aspekte geklärt sind, ist es schwierig, die Kundinnen und Kunden über das weitere Geschehen zu informieren.»
Stopfen oder überbrücken?
Während die einen Lösungen für den Personen- und Gütertransport suchen, versuchen die anderen, das Loch zu stopfen. «Ich wusste, dass wir Schotter und eine Stopfmaschine in der Nähe haben», sagt Vincent Marendaz, der die Reparatur der Fahrbahn organisiert hat. Wird jedoch Materiel verschoben, das für eine Arbeitsstelle vorgesehen ist, kommt es bei dieser zu Verzögerungen. Mitten in der Nacht werden erste Stopfversuche mit Schotter und Zement unternommen. 20 Tonnen Schotter später scheint das Loch gestopft. Doch wie bei den anderen betroffenen Diensten währt auch hier die Freude nicht lange. «Nachdem das zweite Loch entdeckt wurde, haben wir auch Hilfsbrücken angefordert.» Die weiteren Arbeiten bewegen sich in zwei Richtungen: die allfällige Montage einer Brücke vorbereiten und das Loch weiter mit Schotter und Zement füllen. Am Ende wird der Untergrund mit insgesamt 30 Tonnen Schotter und 40 Tonnen Beton stabilisiert, sodass der Verkehr nach und nach mit zunehmender Geschwindigkeit und ohne Brücken wieder aufgenommen werden kann.
Und weg war er, der Schotter: Dieses Video zeigt einen Teil der Arbeiten, die in der Nacht vom Dienstag, 9. November auf den Mittwoch, 10. November ausgeführt wurden.
Eines ist sicher: Wenn auf den Schienen nichts mehr geht, schweisst das «Feu Sacré» der Bähnlerinnen und Bähnler die Teams zusammen und sorgt dafür, dass die Maschinerie hinter den Kulissen funktioniert.
Effizienter Kundendienst für Betroffene
Der Kundendienst ist zwar nicht direkt am Bahnbetrieb beteiligt, war aber ebenso sehr gefragt. Beschwerden, Anfragen und Entschädigungsanträge prasselten nur so auf das Contact Center Brig nieder. Bis zum 30.11.2021 sind rund 5250 Entschädigungsanträge eingegangen. 95 Prozent wurden davon bereits bearbeitet.