Wo bestehen nach wie vor die grössten Hürden im ÖV?
Caroline Hess-Klein: Gegenüber dem ÖV auf der Strasse steht die Schiene zwar viel besser da. Nach wie vor bestehen aber grosse Probleme, die Menschen mit Behinderungen hart treffen. Nebst der Perronhöhe und den Perronzugängen, die in Bahnhöfen den autonomen Einstieg in den Zug erschweren, beschäftigen uns auch die Leitsysteme für Sehbehinderte und die Kundeninformation, wo die Frist schon lange abgelaufen ist.
Wo steht die SBB?
Andrés Doménech Nothhelfer: Die SBB hat viel für den barrierefreien öV getan. Wir passen jährlich durchschnittlich 30 Bahnhöfe an. Bis 2028 werden wir über 2,5 Milliarden in die Bahnhöfe investiert haben. Wir haben schweizweit zahlreiche Perrons erhöht und Rampen und vereinzelt Lifte eingebaut. Aber heute müssen wir klar sagen, dass wir das Ziel nicht erreichen bis Ende 2023 alle Bahnhöfe barrierefrei umzubauen. An allen Bahnhöfen, die ab Anfang 2024 nicht autonom barrierefrei sind, bietet wir deshalb vorübergehend Ersatzlösungen an.
«Es geht hier nicht um Wünsche, sondern Verpflichtungen.»Caroline Hess-Klein
Warum kann SBB die Frist nicht einhalten?
Andrés Doménech Nothhelfer: Einerseits ist die Umsetzung des BehiG komplexer als anfangs angenommen. Andererseits haben neue Anforderungen dazu geführt, dass die SBB mehr Bahnhöfe umbauen muss als ursprünglich verlangt, anstatt 150 Bahnhöfe über 400.
Was ist schief gelaufen?
Caroline Hess-Klein: Laut Gesetz muss der Bahnverkehr für Menschen mit Behinderungen autonom zugänglich sein. Und zwar bis Ende 2023. Dies wird nicht der Fall sein, weil es die Transportunternehmen verschlafen haben, frühzeitig mit der Planung und Umsetzung der nötigen Anpassungen zu beginnen.
«Von Barrierefreiheit profitieren wir alle als Gesellschaft.»Andrés Doménech Nothhelfer
Was sind Ihre Wünsche an die SBB?
Caroline Hess-Klein: Hier geht es nicht um Wünsche, sondern vielmehr um berechtigte Ansprüche. Ziel muss sein, dass weniger Menschen behindert werden und alle autonom unterwegs sein können. Wie das Bundesgericht im Urteil zu den Fernverkehrs Doppelstockzügen (FV Dosto) festhält, ist über die Einhaltung der anwendbaren Normen hinaus immer zu prüfen, ob im konkreten Fall die Autonomie sichergestellt ist und nach Lösungen zu suchen, die möglichst vielen Menschen mit Behinderungen zugänglich sind. Konkret: Ist genug Platz für eine Rampe mit 8% Steigung da, ist diese der steileren Rampe mit 12% vorzuziehen, obschon letztere die Norm noch erfüllt. Inclusion Handicap wird auch in Zukunft ihren gesetzlichen Auftrag wahrnehmen, als Verband für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einzustehen – wenn nötig auch mit Beschwerden. Zuvor sind wir aber immer bestrebt, nach Lösungen zu suchen.
Was sagt die SBB dazu?
Andrés Doménech Nothhelfer: Ja, es handelt sich nicht um Wünsche. Es sind Verpflichtungen. Beim Umbau haben wir bis heute die Bahnhöfe priorisiert, die die meisten Reisenden zählen. Die Priorisierung der verbleibenden Bahnhöfe können wir nun auch gemeinsam mit den Behindertenorganisationen abstimmen. Wo drückt der Schuh am meisten? Wir müssen uns überlegen, uns weniger auf die Nebenzugänge in grossen Bahnhöfen sondern eher auf den Umbau der Treppen in mittleren und kleinen Bahnhöfen zu konzentrieren. Unser Ziel ist es nicht, Klagen auszufechten, sondern gemeinsam einen guten Weg bis zum Schluss zu finden. Denn von Barrierefreiheit profitieren wir alle als Gesellschaft.
SBB will Bahn für alle sein
Reisende mit eingeschränkter Mobilität sollen Dienstleistungen der SBB diskriminierungsfrei nutzen und sich autonom und barrierefrei fortbewegen können. Dies dient behinderten und älteren Menschen, aber auch Reisenden mit Kinderwagen, Gepäck, Velos etc. Das BehiG sieht vor, dass die Mittel der öffentlichen Hand verhältnismässig eingesetzt werden: Deshalb erlaubt das Gesetz an Bahnhöfen, wo der Nutzen einer Anpassung unverhältnismässig hohen Kosten gegenübersteht, auch Ersatzmassnahmen wie zum Beispiel die Hilfestellung durch Personal. An allen Bahnhöfen, die ab Anfang 2024 nicht autonom barrierefrei sind, bietet die SBB vorübergehend solche an. Insbesondere hilft das SBB Call Center Handicap kostenlos, mobilitätseingeschränkten Reisenden Zugreisen zu planen und durchzuführen. 2019 hat das SBB Call Center Handicap 150 398 Ein- und Ausstiegshilfen organisiert und koordiniert. Vor Ort unterstützt das Bahnpersonal beim Ein-/Aussteigen, zum Beispiel mit einer Faltrampe oder einem Mobilift.
Auf dem Weg, aber noch nicht am Ziel
Per Ende 2023 hat die SBB 434 von 764 Bahnhöfen umgebaut. Damit können in den Bahnhöfen der SBB ab 2024 drei Viertel aller Kund:innen hindernisfrei und ohne Unterstützung reisen. Bei rund 300 Bahnhöfen erfolgt der Umbau erst nach 2023. Das BAV und die betroffenen Gemeinden wurden hierüber informiert, mit den Behindertenverbänden ist die SBB im Austausch. Bei rund 30 Bahnhöfen sind die Investitionen unverhältnismässig, so dass die Anpassungen erst beim nächsten ordentlichen Substanzerhalt erfolgen.
Auf den meisten Fernverkehrsstrecken ist wie verlangt mindestens ein Zug pro Stunde und Richtung autonom barrierefrei benutzbar, auf einzelnen Verbindungen bestehen noch Einschränkungen. Im Regionalverkehr sind bereits heute praktisch alle Züge barrierefrei zugänglich. Online hat die SBB sämtliche Vorgaben umgesetzt und auch die Kundeninformation verbessert, ein Beispiel dafür ist die App für sehbehinderte Menschen, die SBB Inclusive App.