Ein Samstag, 11.30 Uhr in Villeneuve. «Reiche Ausbeute», sagt Thierry Moyard mit einem breiten Lächeln, während andere Freiwillige die Ausgabe der Lebensmittel vorbereiten. Es sind hauptsächlich Frischprodukte kurz vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums, die vom Einzelhandel geliefert wurden. «Heute haben wir 110 Kisten bekommen. Im Durchschnitt sind es etwa 80.»
Man hört Französisch, Spanisch, Englisch und die Sprache, die jeder versteht: herzhaftes Lachen. Die Stimmung ist gut. Zu den Freiwilligen gehören Ruth, die sich in ihrer Rolle als Gemüsehändlerin sichtlich wohlfühlt, Myriam, die sich um den Empfang kümmert, Jean, der mitgeholfen hat, Regale zu bauen und mit etwas Stolz erzählt, dass er bisher nur bei einer Ausgabe gefehlt hat, oder auch Jawid, ein junger Afghane, der sich weiter in der Schweiz engagiert, während er auf seine Rückweisung wartet. «Das Team ist gut eingespielt. Sie brauchen mich nicht», sagt Thierry mit einem Augenzwinkern.
Er ist es gewohnt, mit verschiedenen Menschen zusammenzuarbeiten. Der waschechte Bähnler schloss 1999 seine Lehre zum Bahnbetriebsdisponenten ab. Heute arbeitet er in Vevey am Schalter und kümmert sich um die Lernenden. Gerade die Arbeit hat ihm dabei geholfen, die Lebensmittelausgabe auf die Beine zu stellen. «Eines Tages habe ich gehört, wie sich eine Kollegin mit einem Kunden über eine Lebensmittelausgabe unterhielt.» Es stellte sich heraus, dass dieser eine Ausgabestelle in Vevey leitete. «Diese Begegnung war entscheidend für die Umsetzung des Projekts in Villeneuve.» Tatsächlich spielte er schon eine Zeit lang mit diesem Gedanken. Wie so viele hatte Thierry mit Betroffenheit die Bilder hunderter Leute gesehen, die zu Beginn der Pandemie in Genf für einen Sack mit Lebensmitteln anstanden.
Um 13.15 Uhr stapelt sich das Brot, die Früchte liegen hübsch arrangiert bereit, das Nummernsystem ist eingeschaltet. Auf den ersten Blick ähnelt der Raum einem kleinen Lebensmittelladen in einem Wohnquartier. «Wir haben uns entschieden, keine vorbefüllten Säcke zu verteilen. Dass sie selber auswählen können, ist für die Begünstigten eine gewisse Wertschätzung, Ausserdem verhindern wir so, dass sie Lebensmittel bekommen, die sie nicht verbrauchen und am Ende trotzdem im Abfall landen.» Wie überall während der Pandemie wird der Besucherstrom bis ins Detail organisiert. Der Zutritt erfolgt getaktet: alle 2 Minuten eine Person. Die vorherige Anmeldung ist Pflicht.
Kurz vor Ende der Ausgabe wendet sich ein Mann an Myriam. Da er kein Französisch spricht, gibt er ihr sein Natel mit einer französischsprachigen Person am anderen Ende der Leitung. Thierry kennt ihn und spricht ihn auf Spanisch an. «Dank dieses Engagements habe ich recht gut Spanisch gelernt.» Das hilft ihm auch bei seiner Arbeit am Schalter, wo er oft mit Tourist:innen zu tun hat. Mit dem Unterschied, dass er hier den Grossteil der Menschen kennt. «Wir haben viele regelmässige Gäste aus vielen verschiedenen Ländern. Das sind Leute, die aus verschiedenen Gründen nur schwer über die Runden kommen. Die Lebensmittelausgabe entlastet ihr Budget.» Da die Kapazität auf 50 Haushalte beschränkt ist, sind nur Einwohner:innen von Villeneuve zugelassen.
Um 14.58 Uhr kommt für heute die letzte Begünstigte ins Lokal. Mit einem Kleinkind an der Hand und einem zweiten im Bauch grüsst sie Thierry und macht sich daran, Lebensmittel einzupacken. Als sie gegangen ist, sind noch gut zehn volle Gemüsekisten übrig. Thierry ist dennoch zufrieden mit der heutigen Ausgabe. Und was passiert mit dem restlichen Gemüse? «Die Hühner eines Villeneuver Bauern werden sich ein Festessen daraus machen», erklärt Thierry. Zero Waste durch und durch.
Nach Feierabend
Viele SBB Mitarbeitende gehen nicht nur im Berufsalltag mit viel Elan ans Werk, sondern widmen sich auch in ihrer Freizeit mit viel Leidenschaft einem besonderen Hobby oder einem Projekt. Vier von ihnen geben in dieser Serie einen Einblick, was sie nach Feierabend umtreibt – in jeder Adventswoche öffnen wir ein Türchen und schauen jemandem bei seinem Engagement über die Schulter.
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