Als Nathalie Guillaud-Bataille im Jahr 2014 als Leiterin multidisziplinärer Projekte zur SBB stiess, war sie es bereits gewohnt, von Männern umgeben zu sein. Ihre Laufbahn in einem sogenannt «männlichen» Bereich begann in Lyon, wo sie ihr Bauingenieurstudium vor 15 Jahren abschloss. «90 Prozent der Studierenden waren Männer», erinnert sie sich.
Heute ist sie Niederlassungsleiterin des Geschäftsbereichs Verfügbarkeit und Unterhalt in Genf. Auch wenn der Anteil der Frauen innerhalb der SBB allmählich steigt, sind sie nach wie vor in der Minderheit: im Jahr 2021 waren 18,8 Prozent aller Mitarbeitenden weiblich. In den technischen Berufen wie etwa im Geschäftsbereich Verfügbarkeit und Unterhalt ist dieser Anteil noch tiefer. Dieser Geschäftsbereich überwacht, unterhält, und baut die Eisenbahninfrastruktur – von Kabel und Signalen über Fahrleitungen bis hin zu Schotter und Schienen. Die rund hundert Mitarbeitenden der Niederlassung Genf sind für den Abschnitt zwischen Annemasse (F) und Renens (VD) verantwortlich. «Meine Mitarbeitenden hatten alle Hände voll zu tun, um das berüchtigte ‹Loch von Tolochenaz› zu beheben», meint sie mit einem Augenzwinkern. Wegen einer Gleisabsenkung in Tolochenaz (VD) war der Bahnverkehr zwischen Lausanne und Genf im November 2021 mehrere Wochen lang gestört.
Eine Sache des Charakters und nicht des Geschlechts
Für Nathalie ist es kein Problem, hauptsächlich mit Männern zusammenzuarbeiten. «Ich finde, das sollte überhaupt kein Thema sein. Die Charaktere müssen zusammenpassen. Das Geschlecht ist sekundär.» Im Verlauf ihrer bisherigen Karriere hatte sie nie besonderen Probleme mit Männern. Die Zusammenarbeit klappt sehr gut, auch wenn sie manchmal das Gefühl hat, dass «manche Männer zunächst etwas misstrauisch sind und man sich doppelt anstrengen muss, um sie zu überzeugen.» Sie ergänzt aber auch mit einem Lächeln: «Im Gegenzug wird man als Frau oft ein wenig verwöhnt.»
Männerberufe, Frauenberufe – ist das so?
Etwa zweimal pro Monat besucht Nathalie die Baustellen, wo sie noch weniger Frauen antrifft als in den Büros. Liegt das an den unregelmässigen Arbeitszeiten, die auch Nacht- und Wochenendarbeit umfassen? Gemäss Nathalie kann das nicht der Grund sein. «In Spitälern und Pflegeheimen arbeiten viele Frauen, und dort wird ja auch nachts und an Wochenenden gearbeitet.» Und die körperlichen Anstrengungen in manchen Berufen, etwa bei den Gleismonteuren? «Diese Frage stellt sich auch für ältere Mitarbeitende. Meiner Meinung nach beschränkt sich das nicht auf das Geschlecht. Wir müssen Lösungen finden, damit jede und jeder das ganze Berufsleben lang bestmöglich arbeiten kann.» Ausserdem ist die körperliche Anstrengung für das Bewegen von bettlägerigen oder behinderten Personen nicht allzu verschieden von der Arbeit an Gleisen.
Die Familie, eine Paarangelegenheit
Aber wie können wir Frauen für technische Berufe begeistern? «Ich denke, es ist an uns Frauen, manche Grenzen zu verschieben, und an den Arbeitgebern, so rasch wie möglich Werbung für die technischen Berufe zu machen.» Nathalie jedenfalls leistet ihren Teil, um ihre Begeisterung für ihren Beruf weiterzugeben, und organisiert unter anderem Baustellenbesichtigungen für Schulklassen. Besonders gut erinnert sie sich an die Besichtigung einer Baustelle in Romont (FR) vor vier Jahren. Sie war mit ihrem vierten Kind schwanger und hat den Schülerinnen und Schülern mit spielerischen Mitteln die Arbeiten erklärt. Dabei hat sie eine Reaktion ganz besonders beschäftigt: «Die Mädchen sagten zu mir: ‹Aber mit dem Kind werden Sie bestimmt aufhören zu arbeiten?› Dieser Gedanke hat mich ziemlich schockiert. Das zeigt, dass sich in der Gesellschaft noch einiges verändern muss.»
Verändern müssen sich aber nicht nur die gesellschaftlichen Konventionen. Für Nathalie sollten die Unternehmen ihren Mitarbeitenden auch flexiblere Arbeitsmodelle und Krippenplätze anbieten. In der Familie Guillaud-Bataille arbeiten beide Elternteile in Teilzeit. Und sie fügt hinzu «Diese Diskussion sollte sich nicht länger nur auf die Frauen konzentrieren, sondern sich generell darum drehen, wie das Familien- und das Berufsleben aufeinander abgestimmt werden könnten. Letzten Endes ist dies die Entscheidung des Paares – und nicht nur der Mütter.»