Karl Epp, oder Kari, wie ihn alle nennen, steht vor dem majestätischen Gebäude des Wasserkraftwerks in Amsteg, schaut in den grauen, nassen Herbsthimmel hoch und meint zufrieden: «So ist das Wetter für die Stromproduktion perfekt. Nicht zu viel Regen, nicht zu wenig.»
Schon als Bub war er oft im Wasserkraftwerk. Sein Vater hat bereits dort gearbeitet. Faszinierend sei die grosse Halle, die sogenannte Zentrale, mit den roten Maschinen schon damals gewesen. Dass er hier einst Chef wird, ahnte er noch nicht.
Kari, heute 56 Jahre alt, wuchs im benachbarten Bristen auf. Sein Traum war es, Töfflimechaniker zu werden. Leider gab es keine Lehrstelle im Kanton Uri. So wurde er Elektromaschinenbauer. Einige Jahre war er auf Montage in der ganzen Schweiz. Später reparierte er Haushaltsgeräte. Dann, im Jahr 1989, entdeckte er das Stelleninserat: Maschinist/Schichtarbeiter im damaligen Wasserkraftwerk Amsteg gesucht. Warum nicht, dachte Kari. Immerhin kannte er durch seinen Vater einen Grossteil der Belegschaft. Und so wurde er Familienmitglied im Kraftwerk. Die Familie, wie Kari das Team nennt, bestand damals aus noch rund 30 Mitarbeitenden: Mechaniker, Schlosser, Elektriker – die ganze Palette an Handwerkern, 24 Stunden und an sieben Tagen im Einsatz, stets vier Männer pro Schicht. Die sechs Turbinen in der 110 Meter langen Halle wollten laufend repariert und gut in Schuss gehalten sein.
Denkmalschutz konserviert altes Kraftwerk
Das Wasserkraftwerk Amsteg feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Jubiläum. Von 1922 bis 1998 produzierten die Turbinen des alten Kraftwerks «Amsteg I» den Strom – danach übernahm das neue Kraftwerk «Amsteg II». Seit dessen Inbetriebnahme steht das alte Werk komplett still. Die Zeiten, in denen das Thermometer in der Halle angenehme 25 Grad anzeigte, die Mitarbeitenden im Herbst die gesammelten Pilze oder im Winter die Wäsche zum Trocknen hierherbrachten, sind vorbei. Heute ist die Halle kalt und still. Die Turbinen setzen allmählich Staub an. Es gäbe viele Ideen, wie man den diesen Raum nutzen könnte. Pläne für einen kleinen Umbau zum Eventlokal liegen in der Schublade – das Geld dafür fehlt, die Nachfrage dafür im abgelegenen Amsteg ebenso.
Das gesamte alte Kraftwerk steht unter Denkmalschutz. So auch die Kommandozentrale, von wo aus die Maschinen gesteuert, die Produktion reguliert und der gesamte Betrieb überwacht wurde. Unangetastet erinnert sie an vergangene Zeiten. Manchmal kommt das Militär und benutzt den Dachstock der Halle zum Übernachten. Das ist aber auch alles. Er sei nicht wehmütig, aber es sei schon schade, dass hier nichts mehr läuft, meint Kari. Wenn er Führungen durch das Kraftwerk mache, ältere Männer die alten Turbinen anfassen und dabei glänzende Augen bekommen, berühre ihn das sehr.
Vom Maschinisten zum Chef
Der einstige Maschinist Kari arbeitete sich im Lauf der Jahre hoch, wurde Schichtführer und später Mitarbeiter im Kommandoraum. Vor vier Jahren kam die Anfrage, den Posten des Standortleiters zu übernehmen. Er hegte Zweifel. Zwar kannte er das Werk wie kaum ein anderer, aber die klassischen Ausbildungen für diese Leitungsposition hatte er nicht. Ausserdem graute es ihm davor, dass die Gespräche der Anwesenden verstummten, wenn er als Chef den Kaffeeraum betritt. Rückblickend war das zum Glück nie der Fall: «Ich muss zwar Chef sein und auch Entscheidungen fällen – aber auf eine gute Art».
Clara, Marietheres und Trudi
Mit dem Bau des Gotthard Basistunnels und dem Projekt Bahn 2000 stieg der Energiebedarf für den Zugverkehr massiv an. Einige Meter vom alten Kraftwerk entfernt wurde im Berginnern das neue Kraftwerk «Amsteg II» gebaut. Fernab vom Tageslicht stehen dort drei sogenannte Pelton-Turbinen: Clara, Marietheres und Trudi – die einzigen weiblichen Arbeitskräfte im Werk. Sie liefern rund 20% des gesamten Bahnstroms für den Schweizer Schienenverkehr. Laufen alle drei Turbinen mit voller Last, reicht dies aus, um mit 20 Lokomotiven bergauf zu fahren.
«Sauberere Energie als wir hier produzieren, können wir nirgends produzieren»
«Diese Energie, die Kraft, das ganze Gebäude»: Hier zu arbeiten, mache einfach Freude, sagt Kari. Darüber hinaus etwas zu produzieren, was alle benötigen, das fasziniert ihn. Die Sinnhaftigkeit sei das A und O. «Sauberere Energie als wir hier produzieren, können wir nirgends produzieren», meint Kari mit sichtlichem Stolz. Umso mehr schmerzt es ihn, wenn sie Wasser unbenutzt den Bach ablassen müssen, weil nicht immer alle Energie unmittelbar gebraucht wird – denn speichern können sie den Strom nicht.
«Kraftwerksmitarbeitende kommen am Morgen mit leeren Batterien und gehen abends vollgeladen heim.»Kari Epp
Das markante Gebäude des Kraftwerks, das Zugreisende auf der Gotthardlinie sehen, ist Karis zweites Daheim – die heute noch 14 Mitarbeiter (aus den Kraftwerken Amsteg und Wassen) sind seine zweite Familie. Alle seien robust, wissen mit Gefahren umzugehen und äusserst flexibel. Gibt es eine Störung, so lassen die Mitarbeitenden daheim alles stehen und liegen und kommen ins Werk, um zu helfen. Man ist auch privat befreundet, kennt die Familien der anderen und gehe auch gerne mal zusammen Velofahren oder auf die Skipiste.
Woher kommt dieser starke Zusammenhalt? Vielleicht hat der Schlossgeist, der hier angeblich wohnt, seine Finger im Spiel. Oder es ist die viele Energie, die hier seit einem Jahrhundert produziert wird. «Kraftwerksmitarbeitende kommen am Morgen mit leeren Batterien und gehen abends vollgeladen heim», sagt Kari schmunzelnd. Kein Wunder ist er fest entschlossen, auch die letzten Jahre seiner beruflichen Laufbahn hier verbringen zu wollen.
Haben Sie gewusst?
- Die drei Kraftwerke Amsteg, Wassen und Göschenen liefern rund 40% des Schweizer Schienenstroms.
- Durch das neue Kraftwerk fliessen bei maximalem Betrieb 50 Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Das entspricht etwa 333 Badewannen voll Wasser.
- Aufgrund des Taktfahrplans liefert das Werk zur vollen und halben Stunde mehr Strom ins Netz.