Die Fläche neben dem Hauptbahnhof Zürich ist riesig. Und sie liegt extrem zentral. Fast ein Jahrhundert wurden Pläne dafür geschmiedet und wieder verworfen. An den Planungen kann man ablesen, wie sich die SBB entwickelte; und mit ihr das Land und seine Gesellschaft. Aus diesem Spannungsfeld heraus lässt sich erklären, warum es rund 50 Jahre dauerte, bis an der Urne endlich eine mehrheitsfähige Lösung obsiegte.
Stadtentwicklung ist ein beschwerliches Pflaster
Die Fläche zwischen Sihlpost und Langstrasse diente ab Mitte des 19. Jahrhunderts während 150 Jahren zahlreichen Bahnnutzungen und der Post. Sie war sozusagen verbotene Stadt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Mit der zunehmenden Verstädterung und den Veränderungen im Bahnbetrieb zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden Grundstücke beidseits der Gleise und auch das Gleisfeld selbst für Bebauungen interessant. Damit war der Startschuss gefallen für das Jahrhundert des erfolglosen Pläneschmiedens.
Denn Stadtplanung ist kein einfaches Pflaster: An ihr scheiden sich die politischen Weltbilder und Meinungen über die Stadt der Zukunft. Fehlende Mehrheiten waren denn auch häufigster Grund für das Scheitern fast zahlloser Pläne. Auch die Weltpolitik trug das Ihrige dazu bei – so geschehen 1973, als die Ölkrise den damaligen grossen Ideenwettbewerb der Behördendelegation Regionalverkehr Zürich in der folgenden Rezession versenkte. Eine Neuauflage wurde wiederum Opfer einer nationalen Krise: Das Platzen der Immobilienblase in den 1990ern führte zum definitiven Übungsabbruch, nachdem das damalige Vorhaben über die Jahre mehrfach redimensioniert wurde. Und parallel dazu die politische Zustimmung stetig sank.
Aus dem Nichts entsteht eine neue Stadt
Es war bereits 2003 – die Division SBB Immobilien gerade frisch gegründet – als das Bahnunternehmen mitteilte, dass in Kooperation mit der Post und der Stadt Zürich ein neues Entwicklungskonzept in Arbeit sei. Dieses hörte auf den Namen «Europaallee». Es startete gut und konnte zügig weiterentwickelt werden. Zur Krönung wurde eine Volksabstimmung, die deutlich die notwendigen politischen Mehrheiten brachte.
Was war das Erfolgsrezept? War die Zeit nun einfach endlich reif? Oder greift das zu kurz und wurde angesichts der langen Vorgeschichte einiges – wenn nicht besser – so zumindest anders gemacht?
Als Entwickler für den Masterplan berief die SBB den renommierten Stadtplaner Kees Christiaanse. Er betont, wie wichtig es im Städtebau sei, erstens zu erkennen und zweitens zu kommunizieren, welche Komponenten eines frühen Entwurfs Bestand haben und welche flexibel sind: «Der Städtebau im Falle der Europaallee basiert nicht auf einem vorab festgelegten Programm mit festgelegten Positionen, sondern auf der Erkenntnis, dass sich die Funktionen in einem Quartier im Laufe der Zeit verändern.» Deshalb seien beispielsweise die Erdgeschosse flexibel einteilbar. «Und selbstverständlich muss die Hauptstruktur des Strassen- und öffentlichen Raumnetzes aus dem umgebenden Strassennetz heraus entwickelt werden, damit das Neue zu einem lebendigen Bestandteil der übergeordneten Stadtstruktur werden kann.»
Andreas Steiger ergänzt als SBB Projektleiter auf Bauherrenseite: «Am Anfang einer Areal- oder Stadtentwicklung ist naturgemäss vieles offen. Unbestritten sind die Ziele, nämlich einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden Stadtentwicklung und damit zur Lebensqualität zu leisten. Und gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit sicherzustellen.» Gewachsen sei bei ihm über die lange Verbundenheit mit dem Projekt vor allem die Überzeugung, dass sich der Erfolg nur dann einstellt, wenn der Fokus auf der langfristigen Wirkung liegt – und diese langfristige Perspektive so vermittelt werden kann, dass der Ausgleich aller Interessen in Griffweite kommt.
Für Viele ein neues Stück Heimat
Nach sechs Jahren Planungsphase bis ins Jahr 2009 sollte dann die Realisierung weitere zwölf Jahre in Anspruch nehmen. Bis zur Vollendung 2021 stand die SBB unter der Führung dreier CEOs, ebenso viele Chefs haben die Abteilung Immobilien in dieser Zeit geleitet. Einer aber hat die ganze Reise ganz ohne Zwischenhalt mitgemacht: Projektleiter Andreas Steiger.
Andreas Steiger, was geht dir durch den Kopf, wenn ein Projekt nach derart langer Zeit endgültig abgeschlossen ist?
«Ich habe mich so lange und intensiv mit der Europaallee befasst, dass sie mir schon lange vor der Fertigstellung vertraut war: Sehr vieles ist so, wie ich es mir vorgestellt habe, einiges besser und nur weniges leicht enttäuschend. 18 Jahre sind gleichzeitig eine sehr kurze und eine sehr lange Zeit.» Die Freude sei gross, zu sehen, wie die Bewohnerinnen und die Bewohner, die Laden- und Restaurantbesitzer ‘ihre’ Europaallee in Besitz genommen hätten und eine Gemeinschaft bildeten, welche diese neue Heimat gestaltet.
Die Geschichte der Europaallee mag in vielerlei Hinsicht ein Extrembeispiel sein. Aber für die Herausforderungen, denen die SBB bei ihren schweizweiten Arealentwicklungen gegenübersteht, ist sie durchaus exemplarisch. Auch wenn die Europaallee mittlerweile auf dem Weg zu einem ganz normalen Zürcher Stadtquartier ist, so waren Widerstände und Kritik die ständigen Begleiter und sind es heute noch – zu protzig, zu teuer, zu steril. Vorwürfe, mit denen die SBB auch im Rahmen anderer Projekte konfrontiert wird.
Die SBB entwickelt regelmässig in Bahnhofsnähe, was gleichbedeutend mit Zentrumsnähe ist. Gleichzeitig will die Gesellschaft die Zersiedelung in der Schweiz stoppen. Um die Überbauung von Grünflächen zu bremsen, kann die Lösung nur Verdichtung heissen. Diese bringt immer ein gewisses Mass an Aufwertung und Urbanisierung mit sich – im städtischen wie im ländlichen Kontext. Daraus resultiert Widerstand, mit dem beinahe jedes Vorhaben irgendwann einmal im Projektverlauf konfrontiert ist.
Planer Kees Christiaanse hält fest: «Suburbane Gebiete vertragen nicht die gleiche Dichte wie innerstädtische, genauso wie die Europaallee in Zürich nicht Kings Cross in London ist.» Nichtsdestotrotz sei die Verdichtung von Bahnhofsgebieten eine Forderung der Zeit: «Verdichtung und die Nutzungsmischung in der Nähe eines ÖV-Knotens schaffen für die unmittelbare Umgebung ein Versorgungszentrum für den täglichen Bedarf und versehen den ÖV-Knoten dabei mit einer ausreichenden Zahl Fahrgäste, womit wiederum der öffentliche Verkehr optimiert werden kann.» Zusammen mit einer gezielten Park&Rail- und Carsharing-Politik lasse sich darüber hinaus ein ökologischer Effekt auf den Individualverkehr erzielen. «Das ist der einzige Weg, wie das Ausfransen des Siedlungsgebiets – also die Zersiedelung – gestoppt und die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Umwelt und Klima reduziert werden können.»
Zuversicht, Teamwork und Gelassenheit
Wie SBB Projektleiter Andreas Steiger anmerkt, stellt sich der Erfolg erfahrungsgemäss vor allem dann ein, wenn auf langfristige Wirkungen fokussiert wird. So wie Christiaanse soeben die ökologischen Auswirkungen skizzierte. Jetzt müssten sich nur noch die Hände aller Involvierten zum Kompromiss finden; das sei jeweils schwierig genug und könne dauern. Es sei aber auf jeden Fall möglich und dabei vor allem eines: spannend.
Andreas Steiger, apropos dauern: Was braucht es als Projektleiter im Umgang mit extremen Zeithorizonten?
«Ideal ist eine gute Mischung aus Herzblut und Gelassenheit. Und es geht nur mit Teamwork. Dass bei einem so zentralen Projekt wie der Europaallee die Motivation und das Engagement aller Beteiligten hoch war, machte es für alle einfacher.»
Die Gesprächspartner
Kees Christiaanse ist niederländischer Architekt und emeritierter Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich als auch Gründer des Büros KCAP Architects&Planners. Er konzentriert sich in seiner Arbeit auf städtebauliche Fragestellungen in komplexen Umgebungen und auf die Steuerung urbaner Prozesse. Er ist Experte für die Revitalisierung ehemaliger Industrie-, Bahn- und Hafengebiete und betreut mehrere internationale Stadtentwicklungen. Christiaanse entwarf zusammen mit seinem Büro KCAP Architects&Planners den Masterplan für die Europaallee.
Andreas Steiger arbeitete nach der Ausbildung zum Architekten an der ETH Zürich 1986 zunächst als Architekt und Assistent an der ETH. 1992 stiess er zum Projektmanagement der SBB, wo er das Unternehmen in verschiedenen grösseren Planungen vertrat und eigene Projektleitungen wahrnahm. Mit dem Wechsel zu SBB Immobilien übernahm er 2002 die Leitung des Bereichs Development Zürich. Seit 2019 leitet er den Bereich Arealentwicklung Central. Steiger war für die Gesamtprojektleitung der Europaallee verantwortlich.
Neuerscheinung zur Europaallee
Im Mai erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess / Park Books das Buch «Europaallee: Gemisch, Gefüge, 76 Ginkgos». Es beleuchtet die Entstehungsgeschichte des neuen Stadtquartiers beim Zürcher Hauptbahnhof – angefangen bei den zahlreichen Fehlplanungen und glücklichen Fügungen über die harsche Kritik bis zum vollendeten Werk. Neue, exklusiv für das Buch gezeichnete Pläne verschaffen einen bisher nicht gekannten Überblick über alle Baufelder hinweg. Textbeiträge von Fachleuten aus verschiedenen Disziplinen, Porträts von Gewerbetreibenden sowie historische und neu aufgenommene Fotografien fügen sich zu einer Geschichte der Stadtwerdung zusammen.