«Das Personal ist das wertvollste Gut eines Unternehmens»

Vincent Ducrot führt die SBB seit einem Jahr. In diesem Gespräch schaut er zurück auf sein erstes Jahr, verrät die Schwerpunkte für 2021 und erzählt, wie ihm seine Kinder helfen, am Puls des Betriebs zu bleiben.

Lesedauer: 8 Minuten

Disclaimer Bilder: Einige der Bildaufnahmen entstanden zeitlich vor der Maskenpflicht oder unter der strikten Befolgung von Schutzkonzepten.

Seit einem Jahr bist du CEO der SBB. Mit welchen drei Stichworten würdest du dieses erste Jahr beschreiben?
Corona. Verlust. Zufriedenheit.

Das Stichwort «Zufriedenheit» wirkt angesichts des schwierigen Jahrs erstaunlich …
Ich habe in vielen Bereichen Fortschritte gesehen: Wir haben unsere Ressourcen gut im Griff, die Personalzufriedenheit hat sich verbessert, und wir haben viele topmotivierte Mitarbeitende, worauf ich sehr stolz bin. Deshalb gibt es auch trotz des schwierigen Jahrs Grund zur Zufriedenheit.

Die Pandemie dominiert den privaten und beruflichen Alltag. Schaffst du es, das Thema Corona manchmal auszublenden?
Klar! Wie alle anderen muss ich mich mit der Situation abfinden, mich arrangieren und einen Rhythmus finden zwischen Homeoffice und Büro. Am meisten fehlt mir das Sozialleben.

Die Pandemie hat unsere Lebens- und Arbeitsweise verändert. Was möchtest du davon ins Leben nach Corona mitnehmen?
Bei der SBB die Agilität. Es ist uns gelungen, ausserhalb der manchmal schwerfälligen Strukturen und Prozesse Lösungen zu finden. Wir arbeiteten agil, und diese Vorgehensweise müssen wir in Zukunft beibehalten und weiterentwickeln. Die Kompetenzen um ein Thema herum bündeln und zusammenarbeiten, um rasch zu einem Ergebnis zu kommen: Diese Arbeitsweise gefällt mir.

Angesichts des grossen finanziellen Verlusts ist Sparen das Gebot der Stunde. Siehst du hier auch Risiken?
Nein! Der Verwaltungsrat und die Konzernleitung haben beschlossen, weiter in unser Kerngeschäft zu investieren. Die SBB wird weiterhin Züge kaufen, ihre Bahnhöfe renovieren und ihre Infrastruktur und Immobilien ausbauen und modernisieren. Wichtig ist, dass wir uns auf unsere Kernkompetenzen konzentrieren, dass wir dort gut sind und so effizient wie möglich arbeiten. Alle müssen lernen, ihre Aufgaben mit weniger Mitteln zu bewältigen. Das ist eine Herausforderung, aber ich wiederhole: Heute sehe ich keine Risiken. Im Gegensatz zu anderen Unternehmen sind wir nicht gezwungen, tausende Stellen abzubauen oder ein grosses Sparprogramm zu starten.

Wie stellst du sicher, dass Qualität und Sicherheit unter den Sparmassnahmen nicht leiden?
Wir werden nicht dort sparen, ganz im Gegenteil. Die Sicherheit ist die Grundlage bei der SBB. Dort gibt es keine Abstriche. In die Qualität haben wir viel investiert, um die Pünktlichkeit zu verbessern. Diese Anstrengungen werden wir fortsetzen.
Ich bin überzeugt, dass wir sparen können, ohne den Fortbestand und die Entwicklung des Unternehmens zu gefährden. Ein kleines Beispiel: Ich erhalte viele Berichte und frage mich manchmal, ob sie wirklich nötig sind. Ausserdem hat die SBB in Innovationen investiert, die nicht zu unserem Kerngeschäft gehören. Auch hier sind Einsparungen möglich.

Apropos Fortbestand: Ist die SBB überhaupt noch ein Arbeitgeber mit Zukunft?
Alle werden sparen müssen, auch Branchen, die vermeintlich weniger stark getroffen wurden. Niemand wird darum herumkommen. Aber wir bleiben ein sehr attraktiver Arbeitgeber. Der Beweis: Bei HR gingen 2020 rund 78 000 Bewerbungen ein. Das ist gewaltig! (Anm. d. Red.: 2019 waren es rund 69 000 Bewerbungen.) Wir haben schöne Projekte und entwickeln uns weiter, einfach fokussierter und effizienter.

Die Resultate der Personalumfrage fielen 2020 besser aus als 2019. Hat dich das unter Druck gesetzt?
Überhaupt nicht. Ich bin eng mit dem Personal verbunden, denn für mich ist es das wertvollste Gut eines Unternehmens. Man muss ihm deshalb Entwicklungsmöglichkeiten und optimale Arbeitsbedingungen bieten. Als ich zur SBB kam, versuchte ich, das Vertrauen wiederherzustellen, das Bahn-Know-how wieder in den Vordergrund zu stellen und engen Kontakt zu den Mitarbeitenden zu pflegen. Das ist mir wichtig und wird es bleiben, solange ich hier bin.

«Trotz des schwierigen Jahres gibt es auch Grund zur Zufriedenheit.»
Vincent Ducrot, CEO SBB

Du hast das Motto «Gemeinsam für eine SBB» lanciert. Was genau bedeutet es für dich?
Als ich bei der SBB angefangen habe, hatte ich den Eindruck, dass die Divisionen Optimierungen zum Eigenzweck anstrebten. Das einzig Wichtige ist aber die Entwicklung der SBB als Ganzes – nicht einzelner Bereiche.

Die SBB war 2020 zwar pünktlicher unterwegs, doch gleichzeitig gab es grosse Mängel im Bahnbetrieb: Lokführermangel, Zugausfälle … Wo liegen heute die grössten Baustellen?
Zuallererst müssen wir das nötige Personal haben, um unseren Auftrag zu erfüllen: Lokpersonal, Kundenbegleiter, Ingenieurinnen usw. Der Lokführermangel hat uns harsche Kritik eingebracht, und wir arbeiten daran, das Problem zu beheben.

Der Fahrplan ist die zweite Herausforderung. Heute fehlen uns die Reserven, um eine hohe Nachfrage zu bewältigen und gleichzeitig unser Netz zu modernisieren. Und die Bauarbeiten wirken sich auch auf den Fahrplan aus. Daher sinkt die Pünktlichkeit. Es wird nicht möglich sein, den Fahrplan auf einmal zu stabilisieren. Dies geschieht schrittweise über mehrere Jahre, in enger Zusammenarbeit mit dem BAV und den Kantonen.

Der dritte Punkt betrifft das Rollmaterial. Wir hatten zu viele Probleme mit der Zuverlässigkeit. Heute sieht es zwar besser aus, aber wir haben noch viel Arbeit vor uns. Ausserdem haben wir wegen der Lieferverspätungen bei den Bombardier-Zügen nicht genug Rollmaterial. Wir müssen dieses Projekt mit den Doppelstock-Zügen zum Abschluss bringen und neue Züge anschaffen, um eine ausreichende und leistungsfähige Flotte zu haben. So können wir die ältesten Fahrzeuge ausmustern, die für Störungen anfälliger sind.

Eine weitere Herausforderung liegt bei der Planung der Baustellen. Wir müssen sicherstellen, dass sie für den Betrieb und somit unsere Kundschaft so geringe Auswirkungen wie möglich haben.

Die fünfte Grossbaustelle ist die Zukunft von SBB Cargo. SBB Cargo schreibt weiterhin Verluste. Die Coronakrise hat die Probleme, die uns bekannt sind und die wir lösen müssen, noch verschärft.

Und innerhalb der SBB?
Wir müssen uns für die Zukunft rüsten. Dies dreht sich um drei Schlüsselprojekte: die Ablösung des heutigen SAP-Systems durch eine moderne und stärker standardisierte SAP-Umgebung. Es handelt sich um ein hochstrategisches Dossier und eine riesige Aufgabe. Zwei Projekte auf Divisionsebene hängen mit diesem Projekt zusammen.

Bei Infrastruktur steht das Projekt TMS (Traffic Management System) an: Es geht darum, die Prozesse vom Fahrplan bis zum Stellwerk mit einem einzigen System und einer einzigen Datenbank abzuwickeln.

Bei Personenverkehr streben wir eine integrierte Produktion an, das bedeutet, dass wir die beiden Ressourcen Personal und Fahrzeuge aus einer Hand planen möchten.

Wie sieht der Zeitrahmen für diese Projekte aus?
Mein Ziel ist 2025. Es ist eine riesige Herausforderung für das Unternehmen, aber dank dieser Projekte können wir den Unterhalt, die Produktion und die Planung digitalisieren und viel effizienter werden.

Was ist das Erfolgsrezept, um all dies zu meistern?
Uns auf diese Herausforderungen konzentrieren und uns nicht mit zig anderen Projekten verzetteln. Wir müssen unsere besten Mitarbeitenden dazu einsetzen, um rasch Ergebnisse zu erzielen.

Welche Rolle spielen dabei Innovationen?
Innovationen müssen auf unser Kerngeschäft einzahlen: die Bahn. Beispiele sind die automatische Kupplung bei Güterwagen oder EasyRide, mit direkten Auswirkungen für die Kundinnen und Kunden. Wir haben unser Innovationsportfolio wieder gezielter ausgerichtet, und es ist viel am Laufen – aber immer mit direktem Bezug zu unserer Kerntätigkeit.

Kurz nach deinem Antritt hast du den neuen Konzernbereich «Kunden» geschaffen. Wie definierst du zufriedene Kundinnen und Kunden?
Ein zufriedener Kunde wählt immer wieder die Bahn. Die Kundschaft erwartet heute einen hochstehenden Service: sicher, pünktlich, im Einklang mit ihren Ansprüchen. Bei Störungen erwartet sie verlässliche Informationen. In all diese Aspekte investieren wir. Und wir werden die Kundenorientierung stärken. Aus diesem Grund hat die Konzernleitung in Abstimmung mit dem Verwaltungsrat entschieden, Personenverkehr in zwei Divisionen aufzuteilen. Das Ziel: die Kundinnen und Kunden stärker in den Mittelpunkt bringen. Das wird die Rolle der Einheit «Markt Personenverkehr» sein.

Warst du selbst schon unzufrieden als Kunde?
Leider ja. Meine Kinder, die oft mit dem Zug unterwegs sind, berichten mir auch von ihren Erfahrungen. Sie sind für mich ein guter Massstab, ob unser Betrieb gut läuft. Wenn mein Sohn mich fragt, was los sei, weil sein Zug ausfällt, und ich die Antwort in unseren Systemen nicht finden kann, zeigt das, dass etwas nicht stimmt. Allerdings machen wir es in 95 Prozent der Fälle gut und in den restlichen 5 Prozent müssen wir besser werden. Es liegt mir sehr am Herzen, dass wir uns verbessern, gemeinsam.

Zum Schluss: Was sind deine drei Schlagwörter für 2021?
Kunden zurückgewinnen, Kosten im Griff und Begeisterung.

Kunden zurückgewinnen, weil die Krise dank den Impfungen bestimmt überwunden wird. Die Leute werden wieder mit dem Öffentlichen Verkehr unterwegs sein. Die Bahn ist ein klimafreundliches Transportmittel mit Zukunft, davon bin ich fest überzeugt.

Kosten im Griff, auch nach der Krise. Wir haben wegen des Coronavirus in einem Jahr zirka 617 Millionen Franken verloren, und unsere Besteller werden in den kommenden Jahren weniger finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Deshalb müssen wir den Gürtel enger schnallen, aber intelligent.

Und vor allem: Begeisterung. Gemeinsam anpacken. 33 500 Menschen bewegen die SBB. Wenn diese 33 500 Menschen noch ein bisschen besser werden, haben wir als Unternehmen viel erreicht.

Magazin für die pensionierten und aktiven Mitarbeitenden
Dieses Interview erscheint auch in der nächsten gedruckten Ausgabe von SBB News. Das Magazin für die Mitarbeitenden und Pensionierten der SBB wird Anfang April an den Standorten verteilt bzw. den Pensionierten zugeschickt. Das Magazin erscheint viermal jährlich in Deutsch, Französisch und Italienisch mit einer Auflage von 21 500 Exemplaren.

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