SBB Cargo kuppelt jetzt automatisch – ein Blick hinter die Kulissen

Seit dem 6. Mai verkehren Züge von SBB Cargo mit der automatischen Kupplung im Regelbetrieb. Rund 100 Güterwagen und 25 Loks hatte SBB Cargo im letzten Jahr für das Pilotprojekt umgerüstet. Nun läuft der Betrieb seit gut einer Woche stabil. Ein Blick in die Werkstatt.

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In Bellinzona steht mitten in der Stadt eines von vier SBB-Industriewerken. Insgesamt fast 400 Arbeiter, Ingenieure, Mechaniker, Schlosser, Lackierer und Büroangestellte gehen im Industriewerk ihrem täglichen Job nach. Es herrscht eine geschäftige und gleichwohl entspannte Atmosphäre. Die mit orangen Sicherheitswesten bekleideten Männer und die wenigen Frauen sind auf ihre Aufgaben konzentriert. In Bellinzona findet überwiegend die «schwere Instandhaltung» des Rollmaterials von SBB Cargo statt. Ob Lokomotiven oder Güterwagen: Jedes Schienengefährt wird hier im Mehrjahresrhythmus von A bis Z zerlegt, geprüft, repariert und so für weitere Einsatzjahre auf Vordermann gebracht.

Im vierten Quartal 2018 zirkulierten jedoch in auffallender Häufigkeit zwölf Streckenloks Re 420 aus den 1970er-Jahren im Tessiner Werk. Ihnen wurde für SBB Cargo eine ganz besonders intensive Behandlung zuteil: Ihre alten Kupplungen wurden durch moderne Hybridkupplungen ersetzt. Damit können die Loks sowohl an Güterwagen mit automatischer Kupplung als auch an solche mit der alten Schraubenkupplung andocken.

Neue Kupplungen für alte Loks

Die neuen Hybridkupplungen hatte SBB Cargo im Dezember 2017 bei der deutschen Herstellerfirma Voith GmbH bestellt. Zusammen mit dem Einbau in die zwölf Loks ergaben sich Gesamtkosten von rund 2 Millionen Franken. Der hohe finanzielle und zeitliche Initialaufwand, um Güterwagen in Zukunft automatisch statt von Hand zu kuppeln, ist gleichwohl mehr Pflicht als nur Wunsch. «Der Wettbewerbsdruck vonseiten der Strasse steigt permanent», erklärt Fabio Lo Piccolo, der uns auf unserem Werksbesuch begleitet. Als Mitarbeiter im Geschäftsbereich Asset Management von SBB Cargo ist Lo Piccolo stark in das Pilotprojekt «Automation im kombinierten Verkehr», das im Februar 2019 offiziell angelaufen ist, involviert. Die Stichworte zum Konkurrenzdruck von der Strasse liefert er gleich mit: Elektromobilität, selbstfahrende Fahrzeuge und immer mehr Lastwagenchauffeure aus EU-Oststaaten mit niedrigen Lohnkosten.

Da müsse die Bahn dagegenhalten, ist Lo Piccolo überzeugt. So soll sich die Abfertigung eines Güterzugs künftig mit nur noch einer Person realisieren lassen. «Im Fokus stehen dabei die Elemente automatische Kupplung, automatische Bremsprobe und Kollisionswarnsystem an der Rangierlok», fasst Lo Piccolo zusammen. SBB Cargo sieht sich auch als Arbeitgeberin in der Pflicht. «In den nächsten zehn Jahren werden rund 400 Mitarbeitende pensioniert. Berufe wie Rangierer oder Lokführer verlieren seit Jahren an Attraktivität. Es ist sehr schwierig, neue Mitarbeitende zu finden. Mithilfe der Automation wollen wir diesem Nachwuchsproblem entgegenwirken», sagt Lo Piccolo. Das manuelle Anheben der schweren Schraubenkupplung fällt bei einer automatischen Kupplung weg; das Bücken, um die Bremsen zu kontrollieren ebenfalls. Der Lokführer kann für die Bremsprobe künftig sogar in seinem Führerstand bleiben.

Start der automatischen Kupplung in Realbetrieb geglückt

Am 6. Mai 2019, um 20.44 Uhr abends, war es endlich so weit: SBB Cargo ist mit der automatischen Kupplung in den Regelbetrieb des kombinierten Binnenverkehrs gestartet. Das Zentrum des Projekts ist der Hub in Dottikon. Weiter involviert sind die Terminals in Dietikon, Oensingen, Renens, Cadenazzo und Lugano Vedeggio sowie am Rande auch die Standorte Biasca und Mendrisio. Rund 100 Wagen und 25 Loks wurden insgesamt umgerüstet, um mit dem Projekt zu starten. «Wir sind gut gestartet, der Betrieb läuft grundsätzlich stabil», sagt Anja-Maria Sonntag, Leiterin Automation.

Sie betont jedoch, dass bei grossen Systemumstellungen auch Kompromisse nötig sind. So braucht die Hybridkupplung an der Lok – also jene Kupplung, die als herkömmliche Schraubenkupplung sowie als automatische Kupplung eingesetzt werden kann – mehr Platz als bisher. Dies bedeutet, dass der Rangiermitarbeiter das Kuppeln in einem engeren Raum ausführen muss. Zudem stellte sich die Fernbedienung der Hybridkupplung – um von der Schraubenkupplung zur automatischen Kupplung umzustellen – als sehr fragil heraus. Dafür arbeitet das Projektteam bereits an einer Lösung.

Jasmin Bigdon, Leiterin Asset Management, ergänzt: «Sehr viele Kolleginnen und Kollegen haben mitgeholfen, diesen Start ohne grössere Zwischenfälle durchzuführen. Es sind die gleichen Personen, die nun mit grossem Engagement helfen, diese Herausforderungen zu lösen. Ich bin sehr stolz auf alle involvierten Mitarbeitenden und bedanke mich herzlich für den Einsatz.»

Im Sommer testet das Team als zweiten Schritt die automatische Bremsprobe. Diese soll im Frühjahr 2020 mit allen Sicherheitsfunktionen in Betrieb gehen. Die manuelle Bremsprobe dauert heute bei einem 500 Meter langen Zug bis zu 40 Minuten; automatisiert noch 10 Minuten.

  • Weitere Informationen zu den Komponenten des sogenannten Ein-Personen-Betriebs

  • Falls du noch mehr zu den Innovationsthemen der SBB erfahren möchtest: Vom 17.-21. Juni 2019 geben Mitarbeitende einen einmaligen Einblick in laufende Projekte rund um die Mobilität der Zukunft. An Führungen, in Workshops und Referaten erfährst du mehr zu Virtual Reality im GBT, SmartRail 4.0 oder eben zum Güterwagen der Zukunft. Mehr Informationen sowie die Anmeldung zu den verschiedenen Events findest du hier. Die Führung von SBB Cargo findet am 19. Juni am Rangierbahnhof Limmattal statt.